Fraukes Sehnsuchtsorte
Tracklist:
1. Towa Tei: Last Century Modern, 2:50 min. (1999)
2. Elephant Kashimashi: 風に吹かれて Kaze ni Fukarete (im Wind wehen), 04:16 min. (1993)
3. Vágtázó Halottkémek: Újjászületés (Wiedergeburt), 02:02 min. (1997)
4. Terre Thaemlitz & Haco: Yesterday’s Heroes, 02:53 min. (2004)
5. Togawa Kaidan ヒステリア (Hysteria), 03:32 min. (2016)
6. SECAI: 記憶の港 (Port of Memory), 06:44 (2023)
7. The Sabres of Paradise: Haunted Dancehall, 04:25 min. (1994)
8. Masonna: FREAK, 13:44 min. (1995 auf Kasette / auf Platte bei Urashima, 2020) – excerpt
9. Manfred Miersch – Neuschwanstein (2023) – excerpt
10. Kröter – asumasite huip (2018)
Frauke Boggasch:
Frauke Boggasch und Manfred Miersch, Reihe Rumours of Noise:
Track 1
Towa Tei: Last Century Modern, 2:50 min.
Herzlich willkommen zu Mach mal langsam, zu einer Sendung über Sehnssuchtsorte.
Das erste Musikstück war Last Century Modern von Towa Tei aus dem Jahr 1999, dem Jahr, in dem es mich zum ersten Mal nach Tokyo verschlagen hat. Eher zufällig, ich hatte einen Ort, an dem ich mitwohnen konnte, sonst nicht viel Geld, dafür umso mehr Zeit und so bin wochenlang durch Tokyo gelaufen, habe mir die Stadt erlaufen. Der Song trifft diese Stimmung ziemlich gut, ein schwebender Abgesang auf das letzte Jahrhundert, die große Aufregung um den Milleniumswechsel – und der Stadtplan von Tokyo war noch ein dickes Buch. Mehr als einmal musste ich mir in einem Kōban, den kleinen Polizeihäuschen, die an so ziemlich jeder Ecke der Stadt stehen, Hilfe holen. In Tokyo gibt es keine Straßennamen – eine japanische Adresse geht vom Allgemeinen zum Spezifischen, statt Straßennamen werden Blöcke innerhalb eines Viertels nummeriert. Und viele der Orte, die mich interessierten, waren in diesem Stadtplanbuch nicht zu finden, in den Kōban gab es aber detaillierte Karten der jeweiligen Viertel und so wurde ich ab und an von einem Polizisten zu einem Kunstraum gebracht. Die Ausländerin, eine 外人(gaijin), ein Mensch, der draußen steht und der Sprache nicht mächtig war. Dennoch war ich sofort fasziniert von dieser Stadt. Elektrisiert. So oldschool und futuristisch gleichzeitig. So viele Mikrokosmen. so viele versteckte Welten. Beginn des verlorenen Jahrzehnts in Japan, der Zeit wirtschaftlicher Stagnation, die Anfang der 1990er Jahre begann und durch geringes Wachstum und Deflation gekennzeichnet war, was bis heute zu anhaltenden wirtschaftlichen Herausforderungen führt.
Track 2
Elephant Kashimashi: 風に吹かれて (ursprüngl. von Chisato Moritaka), 04:16 min.
Diese Gleichzeitigkeit von Hyperpop & Depression fand ich damals in Tokyo vor, glitzernde Oberflächlichkeit, der doch eine ziemliche Melancholie zugrunde lag – und passend dazu war die Omnipräsenz dieses Songs von Elephant Kashimashi, エレカシeinem der J-Pop-Hits der 90er, den ich Jahre später in einem Plattenladen als single CD aus der Ramschkiste für weniger als 1 € kaufte.
Aber von Anfang an.
Ich hatte als Kind eine Weltkarte als Schreibtischunterlage, die mir seitdem gedankliche Reisen ermöglichte. Der Klang von Ländern und Hauptstädten lud dazu ein, sich einfach kurz wegzudenken aus dem fränkischen Dorf, aus der engen Kleinfamilie, in der ich aufgewachsen bin. Und ganz besonders fand ich diese drei Orte, an die ich irgendwann einmal reisen würde, wenn ich groß bin.
Tromsö im hohen Norden Norwegens, Ulan-Bator in der Mongolei und Montevideo in Uruguay. Warum es diese drei Orte waren, die ich als Kind so besonders fand, kann ich nicht mehr genau sagen – vielleicht lag es am Klang, an der Lage – jedenfalls waren alle drei Orte ziemlich weit weg und somit Ausdruck meines Fernwehs, meiner Sehnsucht, die Welt kennenzulernen.
Als Kind stellte ich mir mein Erwachsenenleben so vor, dass ich zwei Koffer hätte an einem Ort, von dem aus ich immer wieder aufbrechen würde in die Welt. In der Realität lebe ich seit gut 20 Jahren in Berlin und habe viel zu viele Dinge für zwei Koffer, Bücher, Schallplatten – aber eine große Reiselust und Entdeckungsfreude begleitet mich noch immer.
So wird diese Sendung einen Tokyo Schwerpunkt haben, weil ich in diese Stadt immer wieder zurückkehre und mittlerweile zumindest für einige Viertel, in denen ich oft gewohnt habe, zur Chronistin von Gentrifizierung und Veränderung geworden bin – vor allem von Nakano und Koenji, beide westlich von Shinjuku gelegen und bis heute zwei meiner Lieblingsstadtteile.
Aber es wird auch Exkursionen geben zu anderen Städten, mit denen ich eine besondere Beziehung habe. Lieblingsstädte. Also eine Sendung über das Glück, unterwegs zu sein, über Fernweh und Wanderlust – im Englischen hat das Wort oft eine beinahe philosophische Komponente des Ruhelosen: The insatiable desire to be elsewhere. (Das unstillbare Verlangen, woanders zu sein.)
Track 3
Vágtázó Halottkémek: Újjászületés (Wiedergeburt), 02:02 min.
Das waren VHK aka „Die rasenden Leichenbeschauer“, jene legendäre Band um den Astrophysiker Atilla Grandpierre, die ich 1999 im K4 live sehen konnte, bevor ich in eine erste Lieblingsstadt aufbrach: nach Budapest. Ich hatte die Möglichkeit, im Jahr 1999 ein Austauschsemester an der dortigen Kunstakademie zu absolvieren und in ein Budapest einzutauchen, dass im Wandel war und das mittlerweile fast völlig verschwunden ist: es gab noch önkiszolgáló étterem, jene großartigen Selbstbedienungskantinen, die von früh bis spät nachts geöffnet hatten. Meine Lieblingskantine war die Fortuna Önkiszolgáló auf der Budaer Seite direkt gegenüber vom Hilton Hotel, obwohl ich sonst eher ein Pest-Fan war und dort auch im 8. Bezirk, in der Josephstadt, einem Arbeiter*innenviertel im Wohnheim gewohnt habe. Bis heute gibt es aber in Buda noch das Bambi Eszpresszó nahe der Donau, im Erdgeschoss eines legendären Gebäudes aus dem Jahr 1957, entworfen von der Architektin Olga Mináry. Und seit der Eröffnung des Bambi im Jahr 1961 hat sich hier nicht viel verändert. Die sozialistisch-moderne Einrichtung gibt es noch, kleine Metalltische, Hocker, die lange Bank mit rotem Kunstlederbezug, das Wandrelief einer Stadt aus Keramik. Milchkaffee in großen Tassen mit roten Punkten oder Unicum mit Bier. Das Bambi war einer jener Orte, die damals im Stadtbild noch selbstverständlich waren, auch mitten auf der Andrássy Straße, jener Prachtstraße im Zentrum, wo sich auch die Kunsthochschule befand: Kaffeehäuser und Kneipen, in denen man stundenlang sitzen konnte, für wenig Geld guten Kaffee oder Palinka bekam und über die großen Fragen des Lebens sinnieren konnte.
Ich habe viel Zeit damit verbracht, im Kaffee zu lesen, habe gezeichnet und den älteren Besucher*innen beim Schachspiel zugesehen. Ich erinnere mich sofort an jenes Glücksgefühl des Alleinseins, damals natürlich auch noch ohne Handy, diese Freiheit, komplett woanders und doch mittendrin zu sein und niemand wusste, wo genau. Diese Euphorie verspüre ich bis heute vor allem in Tokyo.
Track 4
Terre Thaemlitz & Haco: Yesterday’s Heroes, 02:53 min.
Auch nach Tokyo kehre ich immer wieder zurück. Manchmal mit dem Glück eines Stipendiums, meist erarbeite ich mir die Reise. Tokyo hat mich einfach nicht mehr losgelassen. Diese Überforderung, der Wahnsinn einer 35 Mio. Stadt, die dazu im Kontrast stehende dörfliche Struktur einzelner Viertel, das Abgerockte, Kaputte. Auf eine andere Art kaputt wie hier, die Gesellschaft ist anders organisiert, anders strukturiert und Armut erst mal nicht sichtbar. Obdachlose Menschen wohnen in blauen Zelten in Parks oder sind sogenannte Cyber-Obdachlose, die in 24-Stunden-Manga-Cafés, Internet-Cafés, Supermärkten, Spielhallen oder sonstigen Einrichtungen Zuflucht suchen.
Ich kenne all die Nachteile einer Gesellschaft, die auf Scham aufgebaut ist, auf der Angst, das Gesicht zu verlieren. Und die Vorteile, die es für Nicht-Japaner*innen haben kann, in so einer Gesellschaft zu leben. Dazu ein Auszug aus einem Interview mit Terre Thaemlitz – das Stück, das wir eben gehört haben, ist eine Kollaboration von Terre Thaemlitz & Haco. Terre lebt seit mehr als 30 Jahren in Japan, mittlerweile in Kawasaki bei Tokyo.
„Ich kam als eine Transgender-Person aus den Vereinigten Staaten hierher. In den USA herrscht diese Art von „Fuck you“-Individualistenkultur, in der Menschen, die dich nicht mögen, sich sofort berechtigt fühlen, dies auch zu äußern. Sie fühlen sich berechtigt, dich einfach anzuspucken, mit Sachen zu bewerfen, zu schlagen oder was auch immer zu tun. In Japan hingegen ist das Schlimmste, was sie tun, dich zu ignorieren, wenn sie dich nicht mögen.
Aufgrund meiner Sozialisation in den USA ist das Schweigen in Japan für mich Gold wert.
Ich kann damit umgehen, dass Leute, die mich nicht mögen, mich in Ruhe lassen.“
Gleichzeitig gibt es für alles einen Raum, ein Ventil, einen Moment des Heraustretens. Japan hat eine nach wie vor patriarchale und relativ homogene Gesellschaft unter wirtschaftlichem Druck und mit starker Überalterung, ich denke oft an die Metapher eines Reagenzglases. Sämtliche Prozesse laufen in konzentrierter Form ab und sind vorausweisend für globale Veränderungen, immer irgendwie auch kurz davor, überzuschäumen.
Ich habe lange zur Kawaii-Kultur geforscht, zur Frage, warum alles oft so niedlich erscheint, und zum Phänomen des Infantilismus insgesamt, der auch als eine Art Verweigerung des Erwachsenwerdens fungiert. Infantilismus als Antidepressiva für eine Gesellschaft, die sich nach 1945 in einem Wertevakuum wiederfindet.
All diese weichen Brüche, diese Ventilfunktionen faszinieren mich bis heute – und haben mich irgendwann zwangsläufig in die Welt des JAPANOISE geführt.
Track5
Togawa Kaidan: ヒステリア, 03:32 min.
NOISE Konzerte in oft sehr kleinen live houses sind großartig, absolut katharsische Momente der Wut und der Euphorie – und sehr körperlich erlebbar.
Manchmal entstehen so tolle Kollaborationen wie das eben gehörte Stück von Togawa Kaidan, die erste Kollaboration von Art-Pop-goddess Jun Togawa mit der Noise-Ikone Jojo Hiroshige von Hijokaidan – eine surreale Erfahrung samt Einladung, in die Welten beider Künstler*innen einzutauchen.
Die hier verwendeten Zeichen für Kaidan 階段 bedeuten Treppe (非常階段Hijokaidan heißt Notausgangstreppe), aber Kaidan kann durch andere aber gleichklingende Kanji auch als Geistergeschichte 怪談gelesen werden und legt somit eine Fährte zu einem anderen Themenkomplex, mit dem ich mich seit langem und mit nach wie vor großer Neugier beschäftige: der Welt der Yōkai (妖怪) jener Figuren des japanischen Volksglaubens, die mit unerklärlichen Geschehnissen und Phänomenen assoziiert werden und am ehesten als „Verkörperungen“ bezeichnet werden könnten.
Track 6
SECAI: 記憶の港 (Port of Memory), 06:44
Dieses Stück aus dem letzten Soloalbum von Daisuke Namiki von SECAI steht für mich für so eine Art von „Verkörperung“ von Uneindeutigem. Auf diesem Album aus dem Jahr 2023 finden sich komplexe Ambient-Klanglandschaften aus field-recordings, analogen Synthesizern (MS10) und Gitarre, im Begleittext zwei Sätze der befreundeten Tenniscoats, die für mich perfekt den Zustand beim Musikhören treffen – oder vielleicht auch ein Stück weit jene besondere Emotion, die ich in Tokyo so oft fühle:
ふと旋回していた幸せの音しるべ
永遠がここにあるってこと
Plötzlich begann der Klang des Glücks um mich herumzukreisen
und mir wurde klar, dass die Ewigkeit hier ist.
明るいロンリネスは希望を見てる感じ。
Die strahlende Einsamkeit scheint voller Hoffnung zu sein.
Mit Daisuke habe schon legendäre Nächte in Koenji verbracht, bizarre Orte gefunden, getanzt und viel 熱燗 (atsukan) aka heißen Sake getrunken.
Die Gleichzeitigkeit verschiedenster Szenen in einer Stadt, in der immer etwas los ist, begeistert mich – ebenso die Liebe zum Detail. So gibt es zu jedem vorstellbaren Subgenre auch den passenden Plattenladen in Tokyo. Angeblich ist Tokyo die Stadt mit den meisten Plattenläden weltweit. Ob Kassetten, jamaikanischer Dub oder chinesischer Underground-Rock – oder eben Los Apson in Kōenji, einer meiner Lieblingsplattenläden: ein Raum voller NOISE-Schätze, sämtliche legendären Werke auf Platte und zu normalen Preisen. Eigentlich findet man dort so ziemlich alles, was nicht Mainstream ist – und wie so oft in Plattenläden in Japan sind die Platten mit handgemachten kleinen Anmerkungen und Empfehlungen versehen.
In Tokyo zu sein und offen für unerwartete Begegnungen, die völlige Andersartigkeit und doch auch die Vertrautheit – all das prägt mich jedes Mal aufs Neue. Ich bin Fan, und natürlich nicht objektiv.
Und ich mag Geister – da passt das Stück Haunted Dancehall von The Sabres of Paradise gleich perfekt, schlägt es doch den Bogen zu meiner allerersten großen Reise im Jahr 1995: nach dem Schulabschluss habe ich als Saisonaushilfe in der Autobahnraststätte Aurach Süd gearbeitet, um mir eine Reise nach Jamaika zu finanzieren. Da war ich dann zu ersten Mal außerhalb Europas, mit meiner damals besten Freundin, Zelt und Rucksack – und den ganzen Fragen im Gepäck: was bedeutet eigentlich Heimat? Kann das „unterwegs sein“ als Ruhepol fungieren für eine rastlose Seele?
Track 7
Haunted Dancehall The Sabres of Paradise (1994) 04:25
Im Februar diesen Jahres habe ich den ersten meiner drei Sehnsuchtsorte aus Kindertagen besuchen können: Montevideo! Ich war mit einer kleinen norwegisch-argentinisch-deutschen Reisegruppe in Argentinien und konnte von Buenos Aires aus für ein paar Tage mit der Fähre nach Montevideo.
Uruguay ist eines der Länder mit einer stabilen Demokratie, die Stromerzeugung basiert fast vollständig auf erneuerbaren Energien, das Land hat eine sehr fortschrittliche Sozialpolitik samt LGBTQA+ Rechten, Entkriminalisierung der Abtreibung und Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe seit 2013. Uruguay war 2013 das erste Land der Welt, das die Herstellung, den Verkauf und den Konsum von Marihuana legalisiert hat. Also alles in allem sehr beeindruckend, leider war die Zeit viel zu kurz, aber ich erinnere mich an eine mobile Fahrrad-Technoparty samt ausklappbarer Bar auf einem Spielplatz mitten in der Stadt, an der wir zufällig vorbeikamen und es wirkte fast zu perfekt, um real zu sein…
Zum Schluss tauchen wir nochmal in ein wunderbares Stück NOISE ein: Freak von Masonna aus dem Jahr 1995, ein absolut erstaunliches Werk eines der großen Pioniere des extremen Noise aus Japan! Masonna aka Yamazaki Maso aka Mademoiselle Anne Sanglante Ou Notre Nymphomanie Auréolé. Ein Stück, das ich gern mit Kopfhörern auf dem Sofa liegend höre und ziemlich schnell woanders bin, eine Einladung zu einer imaginären Reise.
Ich bedanke mich fürs Zuhören und wünsche jetzt viel Freude mit FREAK!
Track 8
Masonna: FREAK, 13:44 min.
